Respekt
50 Jahre Forschung, Aktivismus, sogar hier und da ein Gesetzchen geändert - und doch irgendwie gibt's kein Fortkommen im Kampf gegen häusliche Gewalt. Zwar reden wir mittlerweile "darüber". Scheinbar überall und unablässig. Eine Schweizer Talkshow-Moderatorin sagte Mitte 2021 zu mir: "Wir reden darüber auf allen Kanälen!" Entscheidend ist allerdings: wie wir darüber reden. Welche Fragen wir stellen. Wen wir zu Wort kommen lassen. Unter welchen Bedingungen. Und in welchem Rahmen. Wenn man diesbezüglich genau hinhört - und hinschaut - dann merkt man schnell: Es hat sich kaum etwas geändert. Wenn überhaupt.
Beispielsweise: 2020 lud eine deutsche Talkshow mich ein, über häusliche Gewalt zu sprechen ("Kämpferisch, aber bitte sympathisch!" "Und bitte nicht unversöhnlich!") und lud mich, als ich mich gegen diese Anforderungen wehrte, gleich wieder aus: "Das Thema ist einfach zu schwer!"
Ich nehme das nicht persönlich. Ich nehme es auch nicht persönlich, dass Journalisten und Radiomoderatoren das Buch, das ich zum Thema geschrieben habe, ein Mix aus Erfahrung und globaler Forschung, konsequent als "Frauenbuch" vorstellen. Oder: dass ich bei Podiumsdiskussion und anderen Gesprächrunden als "Opfer" oder als "Überlebende" vorgestellt werde. Dass ich - mittlerweile - einen Masters in Kriminologie habe und zum Thema forsche, wird grundsätzlich nur zähneknirschend und auf massiven Druck meinerseits erwähnt. Das alles ist ernüchternd.
Jede dritte Frau erfährt Gewalt von einem Partner oder Expartner. Jede zweite Frau erfährt sexuelle Gewalt. In der Schweiz, Deutschland und Frankreich sterben zwei bis drei Frauen pro Woche durch die Hand ihres Partners oder Expartners. In den USA sterben so vier bis fünf Frauen pro Tag. Die Zahlen sind seit 50 Jahren nahezu unverändert. Tendenz über die vergangenen vier bis sechs Jahre: steigend.
Die Frauen, die darum dann natürlich doch in die Talkshows eingeladen werden, um "ganz offen darüber zu reden", sind nicht zu beneiden. "Ich darf sagen, Sie sind eine sehr attraktive Frau", sagte eine Moderatorin verwundert zu ihrem Gast. Um dann fassungslos fortzufahren: "Warum haben Sie sich das also gefallen lassen!" Wenn sie also weniger attraktiv wäre, müsste sie die Misshandlungen dann hinnehmen? Der Moderator einer anderen Talkshow erklärte die scheinbare Bedürftigkeit seines Gastes zum "Startpunkt" ihrer Gewalterfahrungen: Als langjährig alleinerziehende Mutter, so hatte sie bekannt, hatte sie sich nach "Liebe und Geborgenheit gesehnt". Sehnen wir uns danach nicht alle? Wenn das also der Ausgangspunkt (respektive: die Begründung) für die Gewalt eines potentiellen Partners sein soll, na, dann gute Nacht!
Anspielungen und Schlussfolgerungen dieser Art sollten uns den Atem rauben vor Wut. Tatsächlich sind sie so alltäglich, dass wir sie kaum registrieren. Und wenn, dann erscheinen sie uns "vernünftig". Das ist mehr als nur ein bedauerlicher Nebeneffekt: Die unausrottbaren Mythen und Stereotypen bezüglich häuslicher Gewalt, sind das, was diese Gewalt am Leben hält.
Beispielsweise: Der Mythos, dass nur oder hauptsächlich schwache und/oder psychisch defekte Frauen an gewalttätige Männer geraten. Er findet Ausdruck in dem Reflex, zu jedem noch so progressiven Artikel über häusliche Gewalt einen "Experten"-Kasten zu stellen, in dem ein Psychologe oder Therapeut eine Pauschal-Ferndiagnose stellen darf wie: "Häufig sind das Frauen, die schon als Kinder Gewalt erlebt haben (...) Sie wurden nicht dazu erzogen, eigenständig zu sein." Oder in Leserkommentaren wie diesem: "Das sind immer die gleichen grauen Mäuse, die so etwas mit sich machen lassen." Fakt ist: Studien finden keinen Zusammenhang zwischen dem Wesen einer Frau und ihrem Risiko, Opfer eines Gewalttäters zu werden. Jede Frau kann Opfer häuslicher Gewalt werden. Tatsächlich suchen Täter sich oft starke, selbstbewusste Frauen, um das eigene Image mit ihnen zu polieren. Frauen, die nach aussen "etwas hermachen", aber in der Beziehung gefügig sein sollen. Da Psychologen und Analytiker die Frauen (und dann nur einen Bruchteil von ihnen) erst zu Gesicht bekommen, nachdem sie der Gewalt ausgesetzt waren, ist ihr Urteil zumindest zweifelhaft. Unabhängige Studien legen nahe: Ein geringes Selbstwertgefühl ist das (vorübergehende) Ergebnis des Zusammenlebens mit einem Gewalttäter. Nicht Voraussetzung dafür.
Oder der Mythos, dass Gewalt gegen Frauen hauptsächlich körperlich ist. Tatsächlich beschränken sich viele Täter auf die soziale, emotionale und finanzielle Ausübung von Macht und Kontrolle. Der US-Forscher Evan Stark sagt: "Wenn Sie auf Anzeichen körperlicher Gewalt warten, um häusliche Gewalt zu erkennen, werden Sie 98 Prozent aller Fälle übersehen." Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der in 30 Jahren nur ein einziges Mal zuschlagen "musste", um seine Partnerin gefügig zu machen. Das war zu Anfang der Beziehung. Für die restlichen 30 Jahre reichte das unausgesprochene "Und sonst!", um die Frau in Schach zu halten. Stark sagt auch, dass er in seinen 30 Forschungsjahren nie einem Fall begegnet sei, in dem die Frau auf gleiche Art, mit dem gleichen persönlichkeitsvernichtenden Effekt Gewalt über ihren Mann ausgeübt habe. Britische Forscher kommen zu dem gleichen Ergebnis - und machten eine weitere Entdeckung: So zurückhaltend Männer sind, ihre eigenen Übergriffe als Gewalt zu werten, so schnell fühlen sie sich als Opfer. Internationale Mordstatistiken zeigen: Das Risiko, von einem Partner oder Expartner getötet zu werden, ist für Frauen fünfmal so hoch wie für Männer.
Soviel zu der immer wieder ins Feld geführten Behauptung, dass Männer genauso leicht und oft Opfer werden wie Frauen.
Ein weiterer, gern widerkäuter Mythos ist, dass "Flüchtlinge/Ausländer/Muslime mit ihrer frauenverachtenden Kultur/Religion die Gewalt erst in die Schweiz/nach Deutschland/Frankreich gebracht" haben. So reden nicht nur rechte Politiker und ihre Anhänger. In dem mehrstündigen Interview, das ich einer feministischen Bloggerin gab, beharrte sie darauf, dass "die Muslime um Einiges schlimmer sind!" Fakt ist: Studien aus den USA und England zeigen, dass Gewalt in Einwandererfamilien nicht häufiger vorkommt als in einheimischen Familien. Sie erfährt nur mehr Aufmerksamkeit. Auch Religionszugehörigkeit ist kein Indikator für eine erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen. Dennoch wird das von Politikern und der Presse immer wieder so dargestellt. Eine Studie der Loughborough Universität, England, von 2019 kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Mainstream Presse muslimische Männer nahezu ausschlielich im Zusammenhang mit Gewalt gegenüber Frauen darstellt. Und so ein schiefes Bild schafft. Solche Fehldarstellungen schaden nicht nur muslimischen Frauen und Männern. Sie schaden auch einheimischen Opfern häuslicher Gewalt, indem sie ihre Erfahrungen marginalisieren. Gewalttätige Einwanderer geben in Umfragen dieselben Gründe für ihre Gewalt an wie deutsche Täter: Verlust ihrer Vorherrschaft in der Familie, zum Beispiel durch den Verlust von Arbeit ("Ich kann meiner Rolle als Versorger nicht mehr gerecht werden"), Verlust von Kontrolle über die Frau/Familie durch erhöhte Bildungs- und Kontaktmöglichkeiten der Frau/Kinder, und, in der Folge, Verlust ihrer "Männlichkeit". Diese "Gründe" sind nicht religiös, sondern patriarchalisch bedingt. Auch "Allahs" oder "Gottes" Gesetze sind menschengemacht. Sie dienen, wie alle menschengemachten Gesetze und Regeln vornehmlich der jeweils herrschenden Gruppe. Das sind, dort wie hier, Männer. Zudem sind Flüchtlingsfrauen und/oder Musliminnen neben der häuslichen Gewalt, die sie womöglich erfahren, oft rassistisch, religiös und/oder kulturell motivierter Gewalt im Gastgeberland ausgesetzt. Das Interview mit der Bloggerin ist übrigens nie erschienen.
Als Mythos ebenfalls unausrottbar: "Gewalttätige Männer können gute Väter sein." Basierend auf diesem bisweilen tödlichen Irrglauben, befinden Jugendämter und Familiengerichte weiterhin, dass der Kontakt der Kinder zum Vater unter allen Umständen zu fördern sei. Kinder sollen sich ein "von den Erfahrungen der Mutter unabhängiges, positives Bild" vom Gewalttäter machen können. Fakt ist: Täter sind nie "nur gegen die Frau" gewalttätig. Opfer sind immer auch die Kinder. Entweder als Zeugen oder direkt. Internationale Studien zeigen, dass sich die Verbrechen häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch überlappen. Kinder, die zum Kontakt mit dem gewalttätigen Vater gezwungen werden, werden auch nach der Trennung regelmässig Zeugen lebensbedrohlicher Angriffe auf die Mütter.
Forscher an der Universität von Los Angeles fanden 2017: "Wenn eine Frau ihren prügelnden Partner verlässt, gibt der Schläger seine Kontrolle nicht auf. Er benutzt das Scheidungs- und Sorgerechtsverfahren, um den Missbrauch fortzusetzen. Er kann zum Beispiel das Sorgerecht fordern, nur, um im Leben des Opfers weiter präsent zu sein; er kann das Opfer unzählige Male zurück vor Gericht zwingen, um so den Kontakt aufrechtzuerhalten. Er nutzt vom Gericht angeordnete Besuche und das Sorgerecht, um gegen das Opfer körperliche Gewalt auszuüben. Er schüchtert das Opfer in angeordneten Mediationssitzungen dahin gehend ein, dass es einem geteilten Sorgerecht zustimmt. Er weigert sich, den Kindesunterhalt zu zahlen, um so das Opfer zurück vor Gericht zu zwingen. Die Mehrzahl der Familiengerichte ist derzeit nicht in der Lage, dem Missbrauch des Gerichtes und des Rechtssystems durch den Schläger entgegenzutreten." Auch Schweizer und deutsche Gerichte tun weiterhin, als sei dieser offene Missbrauch von ihnen und durch sie undenkbar.
Und nein: Wenn die Frauen den Täter nur erst verlassen haben, ist NICHT alles gut! Fakt ist: Oft ist mit dem Verlassen nicht mal das Schlimmste ausgestanden. Ein Drittel der Frauen erfahren nach der Trennung weiter Gewalt. 70% der schwersten Übergriffe, Mord inklusive, werden verübt, nachdem die Frau den Mann verlassen hat. Oder während sie plant, ihn zu verlassen und er davon Wind bekommt. Und davon Wind bekommen diese Männer fast immer. Ihr "Leben" hängt davon ab. Ihr System von Macht und Kontrolle. Dessen Zusammenbruch nehmen die wenigsten Gewalttäter einfach hin.
Darum brauchen die Frauen unsere Unterstützung. Auch noch, beziehungsweise speziell nachdem sie den Täter verlassen haben. Das heisst: Sie brauchen nicht (schon wieder!) Menschen, die ihnen ihre Meinung aufschwatzen, Entscheidungen für sie treffen, die ihnen sagen, was sie tun und lassen sollten, oder die, ganz allgemein, "für" sie sprechen. Sie brauchen Menschen, die sie hören. Die sie als Person erkennen und anerkennen - jenseits der Gewalt, die sie erfahren und ertragen haben.
Häusliche Gewalt ist nicht das Verbrechen von Einzelnen. Sie hat viele Täter. Nicht alle schlagen mit Fäusten zu. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt "häusliche Gewalt eine Verletzung der Menschenrechte". Hauptsächlich der Menschenrechte von Frauen. Evan Stark sagt: "Es geht nicht nur um die Sicherheit und das Leben von Frauen. Es geht in erster Linie um ihre Freiheit."
Was die Frauen darum in erster Linie brauchen, und was wir verpflichtet sind, ihnen zu geben, ist: Respekt.
Antje Joel
Antje Joel hat einen Master in Kriminologie/Gewaltprävention und forscht zu den Auswirkungen von Scham und Stigma und den Zusammenhang mit Gewalt.
Empfohlenes Buch: Prügel, eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt
von Antje Joel